Kapitel
7: Diskussion
7.1 Diskussion der empirischen
Untersuchungsergebnisse und Bezug zu den theoretischen Vorüberlegungen
Wie lassen
sich die Ergebnisse des empirischen Teils der Untersuchung untereinander und im
Lichte der theoretischen Vorüberlegungen verstehen?
In Kapitel 4 wurde gefragt, ob es sich bei der
Internetberatung um ein Angebot, für einen neuen, ganz speziellen Personenkreis
handelt, und ob dieses Angebot Eigenschaften besitzt, die es diesem
Personenkreis überhaupt erst ermöglichen, eine Beratung in Anspruch zu nehmen.
Teilaspekte diese Fragestellung waren dabei, ob die
Schwelle, sich an ein Beratungsangebot im Internet zu wenden, als niedriger
erlebt wird als bei traditionellen Formen von Beratung (Telefon, Face-to-Face),
welche Spezifika dieser medienvermittelten Form der Kommunikation sich
feststellen lassen, und ob es sich hinsichtlich bestimmter
Persönlichkeitsmerkmale um eine spezielle Personengruppe handelt, die diese
Form von Beratung in Anspruch nimmt. Schließlich sollte geprüft werden,
inwieweit die Eigenschaften dieser Personengruppe zu den Merkmalen und
Spezifika dieser medienvermittelten Kommunikation passen. Als letzter Aspekt
sollte das Thema Internet-Sucht behandelt werden.
Im Laufe dieses Kapitels sollen überblickshaft die
Ergebnisse der einzelnen Teile der Untersuchung in Bezug zueinander referiert,
und im Zusammenhang der Thesen und Theorien dargestellt und bewertet werden.
Schließlich soll ein Ausblick auf weitere, mögliche
Forschungsfragestellungen gegeben werden, wie sie sich in der Zwischenzeit aus
der weiteren Beratungserfahrung bzw. aus den Ergebnissen der vorliegenden
Untersuchung ergeben haben (Kap. 7.2, S. 316).
7.1.1 Schwellen
Im Sinne der
von Döring beschriebenen
„verringerte[n] Kontaktschwelle“ aufgrund der insgesamt „leichten
Erreichbarkeit“, wurden hier die (vermeintlich) äußeren Schwellen überprüft (=
Notwendigkeit, sich angemessen zurecht zu machen, Termine einhalten und den Ort einer Beratungsstelle erreichen zu
müssen) (vgl. Döring, hier, Kap.
3, S. 53).
Den Thesen,
daß das Fehlen visueller Kontrolle, einen „offeneren Austausch“ über „persönliche und
schambesetzte Themen“ ermögliche (vgl. Döring,
hier, Kap. 3, S. 43; Schöppe, hier,
Kap. 3, S. 65) bzw. daß die Offenheit dadurch erleichtert werde,
daß der Ratsuchende den „Grad der Intensität der Kommunikation“ weitgehend frei
selbst bestimmen könne (Janssen,
hier, Kap. 3, S. 70), wurde hier unter dem Stichwort der (vermeintlich) inneren
Schwellen nachgegangen.
Alle Einzelvergleiche der Experimentalgruppe zu den
Vergleichsgruppen zusammengenommen erhält man im wesentlichen
folgende Ergebnisse:
Es ergibt sich, daß sich die Experimentalgruppe sowohl
von der Zufallsstichprobe, (insofern diese über eine vergleichbare,
aktuelle Beratungserfahrung verfügt,) als auch von den Beratungsklienten
traditioneller Beratungsangebote, als auch von den Patienten ambulanter
Praxen dahingehend hypothesengemäß unterscheidet, daß die Probanden der
Experimentalgruppe sowohl ‘äußere’ (Aufwands-)Schwellen als auch ‘innere’
(Peinlichkeits-)Schwellen signifikant 19
als höher und abschreckender wahrnehmen. Dies gilt zumindest in allen
parallelisierten Fällen und in den meisten Vergleichen der
nicht-parallelisierten Gesamtgruppen hinsichtlich der Hauptskalen (vgl. Kap.
6.3.3, S. 206 - 220).
Bei der
allgemeinen Schwelle, sich überhaupt im Falle einer Notlage äußere Hilfe zu suchen,
ergibt sich der Unterschied, einer erlebtermaßen größeren Überwindung, die es die
Internet-Beratungsklienten kosten würde, lediglich zur Zufallsstichprobe
signifikant. Zu den anderen Beratungsbereichen war hier kein Unterschied
gesichert festzuhalten (vgl. Kap. 6.3.3, S. 206 - 220).
Der
Vergleich der Internet-Beratungsklienten mit der Gruppe der Internet-Probanden ohne Beratungserfahrung ergibt
lediglich bei den äußeren Schwellen einen festzuhaltenden Unterschied: Hier
werden die Schwellen, entgegen der Hypothese, von den
Internet-Beratungsklienten als signifikant niedriger eingestuft (Kap. 6.3.3, S.
206 - 208).
Im Vergleich
zu den Klienten traditioneller Formen von Beratung (Beratungsstellen und
Praxen) war auch das Bedürfnis nach Kontrolle von Situationen, in welchen man
Hilfe bzw. Beratung sucht, also genau dosieren zu können, was und wieviel man
in solchen
Situationen von sich zeigt, in der Experimentalgruppe signifikant erhöht. (Kap.
6.3.3, S. 214 - 220)
Die
Bedeutung des Namens bei der Kontaktaufnahme über das Medium Internet, auf die
z. B. Bahl hingewiesen hat (Bahl, hier, Kap. 3, S. 47), und die hier
auch für die Selbstdarstellung des Beratungsangebots überprüft wurde, ergab daß
der Name „Psychologischen Beratung im Internet“ deutlich bevorzugt wird, und
daß der Name „Seelsorge und Beratung“ offenbar eine erheblich abhaltendere
Wirkung hat. (vgl. Kap. 6.3.3.2, S. 230 - 233)
7.1.2 Spezifika
der Netzkommunikation
Ein weiterer Aspekt der Untersuchung bestand darin, einen
Teil der Spezifika dieser neuen, medienvermittelten Art der Kommunikation zu
erfassen: Welche neuen Formen der Beziehung und der Kommunikation ergeben sich,
welche Aspekte dieser Kommunikationsform sind entscheidend für die Nutzer
bzw. auch für die Selbstauswahl derselben?
Hier umfaßte
ein erster Themenkomplex die Frage nach dem Bedürfnis der Kontrolle in der
Selbstdarstellung und dem Spiel mit Geschichten und Rollen:
Es wurde in
der Literatur beschrieben, daß die Kommunikation im Netz „vorurteilsfrei und
gleichberechtigt“ erfolge (Janssen,
hier, Kap. 3, S. 70), daß der netz-vermittelte Kontakt im Erleben der Nutzer
ein „objektiveres und gerechteres Urteil“ ermögliche, was dazu führe, daß ein „Gefühl der Sicherheit und der
Kontrolle“ entstehe, welches „größere Offenheit und Intimität“ ermögliche (Bahl, hier, Kap.3, S. 46), bis hin zu dem
Postulat, daß CMC „maximale Kontrolle“ darüber ermögliche, wieviel man von sich
„offenbaren“ wolle (CMC-Theorie der Simulation;
vgl. Döring, hier, Kap.3,
S. 49).
Hinsichtlich
einer solchen Kontrolle des Kontakts bzw. des Spielens mit Rollen zeigen die
Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, daß sich die Experimentalgruppe der
Internet-Beratungsklienten in Bezug zu den meisten Vergleichsgruppen
(Zufallsstichprobe, Beratungsklienten traditioneller Beratungsangebote,
Patienten ambulanter Praxen) in fast allen Fällen hypothesengemäß
unterscheidet:
In der
Experimentalgruppe ist der subjektive Eindruck, falsch wahrgenommen zu werden,
bzw. ganz allgemein das Bedürfnis, eine weitgehende Kontrolle über Situationen
zu besitzen, in welchen man sich vor anderen Menschen darstellt, gegenüber
allen genannten Gruppen deutlich erhöht. Im Falle des Vergleichs mit
Beratungsstellenklienten bzw. Praxispatienten ist darüber hinaus in der
Experimentalgruppe gerade auch ein erhöhtes Bedürfnis nach Kontrolle von
Situationen festzustellen, in welchen man Hilfe bzw. Beratung sucht.
Schließlich
besitzt die Möglichkeit des Internet, sich immer wieder anders präsentieren und
mit verschiedenen Rollen spielen und experimentieren zu können, eine größere
Attraktivität.
Alle diese
Aspekte unterscheiden die Experimentalgruppe zuverlässig auf unterschiedlichen
Signifikanz-Niveaus von allen genannten Vergleichsgruppen hinsichtlich der
Hauptskalen und der meisten Sub-Skalen. (vgl. Kap. 6.3.3, S. 206 - 220)
Lediglich im
Vergleich zu den Internet-Probanden ohne Beratung wird ausschließlich das Thema „Sich-falsch-wahrgenommen-Fühlen“
bzw. das Bedürfnis nach Kontrolle bei der Selbstdarstellung signifikant. Bei
der Attraktivität des Spielens mit verschiedenen Rollen bzw. bezüglich der
Hauptskala ist hier keine zuverlässige Differenz festzustellen. (vgl. Kap. 6.3.3,
S. 206 - 208)
Die
medienvermittelte Möglichkeit zu
„Rollenspiel-Erfahrungen“ im Netz (Turkle, hier, Kap. 3, S. 66 ff.) und der
damit geschaffene „Spielraum für Illusionen“ (Bahl,
hier, Kap. 3, S. 47) wurde weiterhin damit zu erfassen gesucht, daß erhoben
wurde, inwieweit der Raum für eigene Phantasien von Bedeutung ist. Hier gaben
im Durchschnitt 48 Prozent der Befragten an, daß dies eine reizvolle Dimension
des medienvermittelten Kontakts zu Menschen darstellt (vgl. Kap. 6.3.4, S. 243).
Zum
Sozialverhalten bzw. Gemeinschaftsgefühl bei der CMC ergaben sich folgende
Resultate:
Das
Sozialverhalten der hier befragten Internet-Probanden scheint die
Untersuchungsergebnisse von Döring zu
bestätigen, daß die Netznutzer „kein auffälliges
Sozialverhalten“ zeigten, im Gegenteil in vielen Fällen „eher weniger einsam
und besser sozial integriert“ seien, als vergleichbare Gruppen (vgl. Döring,
hier, Kap. 3, S. 54 f.): Zumindest nach der Selbsteinschätzung der in der
vorliegenden Untersuchung befragten Probanden geben 77 Prozent an, Kontakte zu
Menschen außerhalb des Netzes zu bevorzugen und wahrzunehmen (vgl. Kap. 6.3.4,
S. 235 f.). Lediglich in der Gruppe der nach Selbsteinschätzung klassifizierten
Internet-Süchtigen gibt ein großer Teil der Probanden an (= 39 %), Kontakte
innerhalb des Netzes zu bevorzugen (vgl. Kap. 6.3.6, S. 283).
Acht bis 20
Kontaktaufnahmen zu anderen Menschen pro Woche über das Internet, Kontakte zu
circa fünf verschiedenen Menschen pro Woche und regelmäßige, freundschaftliche
Kontakte zu zwei bis fünf Menschen im Netz, sprechen allerdings dafür, daß die
hier befragte Gruppe, einen guten Teil der Kontakte zu anderen Menschen doch
medienvermittelt bewerkstelligt. Auch muß festgehalten werden, daß manche
Netz-Nutzer angeben, mit bis zu 400 Menschen pro Woche über das Netz Kontakt zu
haben, und daß davon bis zu 80 Menschen als ‘Freunde’ angesehen werden (vgl.
Kap. 6.3.2., S. 200 - 202), was für die These Dörings
spricht, daß sich hier medienvermittelt die Wahrscheinlichkeit „vieler
schwacher Bindungen, kurzfristiger und unverbindlicher Art“ erhöht (vgl. Döring,
hier, Kap. 3, S. 53). (Zur weiteren Einordnung der Ergebnisse zum
Sozialverhalten vgl. auch Kap. 7.1.4, S. 311 - 314).
Die Angaben
zum Gefühl von Nähe und Verbundenheit bei der Netz-Kommunikation, zeigen daß
insgesamt die Tatsache, daß der Kontakt medienvermittelt ist, hier keine
Distanz bedeuten muß: Für 71 Prozent der Probanden ist das Netz nicht zu anonym
für persönliche Themen, 87 Prozent der Probanden sind der Meinung, daß es
grundsätzlich möglich ist, daß man sich auch bei einem Kontakt über das Netz
sehr nah fühlen kann, und immerhin 43 Prozent der Probanden verfügen auch über
eine häufigere eigene Erfahrung von Nähe zu Kommunikationspartnern im Netz. Ein
knappes Drittel (= 31 % ) stimmt der Aussage zu, die Erfahrung gemacht zu
haben, im Netz anderen Menschen näher zu stehen als in sonstigen Situationen
(vgl. Kap. 6.3.4, S. 236 - 239).
Es ergibt sich kein Hinweis darauf, daß sich für die
Probanden die erlebte Nähe zu einem Gegenüber im Netz unterscheidet, je nachdem
ob der Kontakt synchron (= Chat) oder asynchron (= E-Mail) zustande kommt (vgl.
Kap. 6.3.4, S. 236 f.).
Des weiteren
gab es den großen Themenkomplex, der auf den von König bereits für das Medium Telefon aufgestellten Thesen
fußt, und im wesentlichen den Gedanken der regressionsfördernden
Eigenschaften medienvermittelter Kommunikation im Sinne der Erleichterung
primärprozeßhafter Verhaltensweisen umfaßt (vgl. König, hier, Kap. 3.2.2, S. 36).
Hierhin
gehört zunächst die Frage der Flüchtigkeit der Netzkontakte: Offenbar findet es
zwar nur ein Drittel der Probanden schwer, dauerhafte Kontakte zu halten, und
die Kontakte werden immerhin von zwei Dritteln eher so erlebt, daß man sie
aufrechterhalten möchte, dennoch geben mehr als drei Viertel der Probanden an,
daß es Ihnen häufig zu aufwendig ist, lange nach einem bisherigen
Kontakt-Partner im Netz zu suchen. Die Kontakte erscheinen also eher flüchtig
zu sein, obwohl sie als sinnvoll und nicht schwierig herzustellen eingestuft werden
(vgl. Kap. 6.3.4, S. 242 f.). Es besteht offenbar wenig Bereitschaft, hier
gemäß eines ‘Realitätsprinzips’ einen gewissen Aufwand zu treiben, der für
dauerhafte Beziehungen unerläßlich ist.
Darüber
hinaus wurde die These Babins, der
Tendenz zum „sozial gestatteten Eskapismus“ geprüft, der Möglichkeit also
Kontakte konsequenzenlos abbrechen und wieder anknüpfen zu können, ohne daß
einem ein Vorsatz unterstellt oder vorgeworfen werden kann, da eine Fülle
technischer Probleme vorgeschoben werden kann, was letztlich nicht überprüfbar
ist (vgl. Babin, hier, Kap. 3, S.
57). Der vorsätzliche aber nicht offen vertretene Kontaktabbruch kann durchaus als primärprozeßhafte
Verhaltensweise im Sinne Königs
angesehen werden.
Für mehr als
die Hälfte der Probanden (58 %) ist das jederzeitige Bestehen der Möglichkeit
eines solchen konsequenzenlosen Kontaktabbruchs ohne persönliche Verantwortung
wichtig, was eben wenig zu den üblichen sozialen Normen paßt, und insofern als
am Primärprozeß orientiertes Verhalten angesehen werden kann, das durch die
Eigenschaften computervermittelter Kommunikation ermöglicht, eventuell
sogar nahegelegt und offenbar auch genutzt wird (vgl. Kap. 6.3.4, S. 240).
Schließlich
gehören in diesen Zusammenhang auch die Fragen, die darauf abheben, inwieweit
eine jederzeitige Verfügbarkeit eines Internet-Beratungsangebots gewünscht oder
gesucht wird, inwieweit man also Aufschub von Bedürfnisbefriedigung zu leisten
bereit bzw. in der Lage ist.
Für 89 Prozent der Befragten ist es von besonderer
Bedeutung, daß die psychologische Beratung im Internet jederzeit bzw. immer
genau dann erreichbar ist, wenn man sie gerade braucht, man somit nicht an
spezielle Zeiten gebunden ist (vgl. Kap. 6.3.4, S. 243 f.).
Die
Ergebnisse der offenen Fragen unterstützen dies: 26 Prozent der Antworten auf
die Frage nach ‘wichtigen’ bzw. ‘angenehmen’ Eigenschaften der
Internet-Beratung entfallen auf die Forderung nach sofortiger Erreichbarkeit
des Beratungsangebots. Auch die ebenfalls aus den offenen Fragen (= was ist
‘unangenehm’) bekannten Verunsicherungen aller Art zeigen regressive Tendenzen
auf: Es gibt ein sehr starkes Bedürfnis nach Verläßlichkeit und
Verbindlichkeit, es manifestiert sich also ein entwicklungsmäßig frühes Thema
von Halt und Sicherheit (vgl. Kap. 6.3.7, S. 298 f.).
Der Versuch der Klärung, welche besonderen Eigenschaften
sich durch den synchronen Kontakt beim Chat oder dem asynchronen bei der
E-Mail-Kommunikation ergeben, hat leider keine Ergebnisse zutage gefördert:
Weder das Gefühl von Nähe zum Kommunikationspartner, noch
das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle in der Selbstdarstellung bzw. der
Gefahr von Mißverständnissen oder der Anspannung scheint durch die beiden
Formen der Kommunikation beeinflußt oder verändert. Lediglich der Hinweis, daß
die Internet-Süchtigen den Chat bevorzugt nutzen, legte hier weitergehende
Interpretationen nahe. (Zu deren Diskussion siehe im vorliegenden Kapitel S.
314 - 316, bzw. Kap. 6.3.6, S. 290 - 292.)
7.1.3 Persönlichkeitsstruktur
Insgesamt
ergibt sich für die Gruppe der Internet-Beratungsklienten eine
durchschnittliche Persönlichkeitsstruktur, die sich über alle im folgenden
genannten Dimensionen auf unterschiedlichem Niveau signifikant von der
Normstichprobe unterscheidet: Gemäß der Konstruktion der FPI-Skalen neigen die
Probanden im Vergleich zur Normstichprobe zu einer depressiveren, traurigeren,
niedergedrückteren und pessimistischeren Stimmung (FPI 3), sie erscheinen im
Kontakt zu anderen Menschen leichter irritierbar, und reagieren leichter enttäuscht,
verärgert, betroffen und ermutigt (FPI 6), sie zeichnen sich mehr durch
Zurückhaltung, Schüchternheit und weniger durch Selbstvertrauen aus (FPI M),
sie sind gekennzeichnet durch größere Selbstgenügsamkeit und ein geringeres
Kontaktbedürfnis, d. h. sie vermeiden Kontakte eher und leben ungeselliger (FPI
5), sie zeigen mehr Verlegenheit, Gehemmtheit, und Angespanntheit im Umgang mit
anderen Menschen, und damit eine gewisse Kontaktunfähigkeit (FPI 8), sie
erscheinen in ihrer Stimmungslage labiler im Sinne von leicht reizbar,
niedergedrückt, grüblerisch und teilnahmslos (FPI N), sie neigen mehr zu
körperlichen Beschwerden und zu körperlicher Affektresonanz (FPI 1), und man
kann sie insgesamt gemäß der Skala E des FPI als introvertiert beschreiben im
Sinne der Ungeselligkeit, Selbstgenügsamkeit und Zurückhaltung (vgl. Kap.
6.3.5, S. 248 f. und 266 - 268).
Aus dieser
Gesamtgruppe lassen sich drei Teilgruppen von Internet-Beratungsklienten
extrahieren:
Es ergibt
sich eine erste, vergleichsweise kleine Teilgruppe (12,5 %), die grundsätzlich
zufrieden und stabil erscheint. Diese Teilgruppe braucht vergleichsweise wenig
Kontrolle in zwischenmenschlichen Beziehungen, um sich sicher und wohl zu
fühlen. Hier stehen ausnahmslos akute Partnerschaftskonflikte im Zentrum der
Problematik, mit der man in Beratung geht, es gibt aber keine Hinweise auf
mangelnde soziale Kompetenzen oder gravierendere, chronifizierte Störungen.
Es ergibt
sich eine zweite Teilgruppe (34,5 %), deren Persönlichkeitsprofil bereits
gewisse problematische Potentiale aufweist (Depressivität, Irritierbarkeit,
emotionale Labilität). Hier gibt es die ganze Bandbreite von Beratungsthemen,
mit z. T. bereits seit vielen Jahren bestehender Problematik.
Schließlich
gibt es eine dritte, größte Teilgruppe (53 %), die über alle Skalen signifikant
bis hochsignifikant mit ausgeprägtem Profil von der Normstichprobe abweicht,
und zwar grundsätzlich in Richtung geringerer sozialer Kompetenzen und
eingeschränkter persönlicher Ressourcen (extremisiertes Profil der Beschreibung
der Gesamtgruppe; s. o., S. 309), was den Umgang mit anderen Menschen bzw. eine
stabile, positive Grundstimmung schwierig macht, und somit die Voraussetzungen
für eine zufriedenstellende Lebensbewältigung nicht immer gegeben
erscheinen (vgl. Kap. 6.3.5, S. 255 - 259).
7.1.4 Wechselbeziehungen zwischen
situationalen Bedingungen und Persönlichkeitsdispositionen
Auf die dezidierte Frage hin, geben 47 Prozent der
Befragten an, daß eine psychologischen Beratung über das Internet am ehesten in Frage käme, und
eine direktere Art der psychologischen Beratung nur in einem schweren Notfall
denkbar wäre, so daß diese Form der Beratung für
viele offenbar erst die Eröffnung der Möglichkeit darstellt, frühzeitig
qualifizierte Hilfe zu bekommen, und nicht erst dann, wenn sich das eigene
Problem oder gar die psychische Erkrankung in einem nicht mehr übersehbaren
Ausmaß verschlechtert hat.
Läßt sich nun aus dem bislang Gesagten verstehen, ob bzw.
inwiefern dieser Klientenkreis
gerade zu dieser spezifischen Beratungsform ‘paßt’ bzw. inwieweit es also
gerade kein
Zufall ist, daß die Klienten diese Form von Beratung wählen und keine andere?
Die Internet-Beratungsklienten sind, wie gezeigt,
stimmungslabil mit der Neigung zu depressiver Verstimmung, sie sind leicht
irritierbar, gehemmt und angespannt im Kontakt. Eine gewisse Methode der
Sicherung gegen diese unguten Gefühle besteht darin, eher ungesellig und
selbstgenügsam, zurückhaltend und kontaktvermeidend zu leben. Es wird also
versucht, diejenigen Alltagssituationen der Begegnung mit Menschen zu
vermeiden, von denen man weiß, daß sie einen leicht enttäuschen und in ein
Stimmungschaos stürzen.
Daß von einer solchen Gruppe, die Schwellen, zu anderen
Menschen Kontakt aufzunehmen, als besonders hoch erlebt werden, ergibt sich aus
dem geschilderten Vermeidungsverhalten: Zum einen ruft jeder Kontakt deutliche
Ängste vor Verunsicherung und
Verstimmung hervor. Zum anderen besteht wenig Übung in der
Kontaktaufnahme und -pflege. Da aber ganz allgemein jeder besondere Fall/ jede
Ausnahmesituation mehr Überwindung kostet als ein gewohnheitsmäßiges Verhalten,
ist schon allein deshalb die Hürde, sich zu einer Kontaktaufnahme überwinden,
gesteigert.
Wenn nun aber Kontakt aufgenommen werden soll oder muß,
ist es ein hoch positiv besetzter Wert, wenn es sich dabei zum einen um
Situationen handelt, in welchen man eine hohe Kontrolle dessen besitzt, was und
wieviel man von sich zeigt, und wenn zum anderen in diesen Situationen
‘Vorurteile’ bzw. Beurteilungen nach rein äußeren, subjektiv häufig als falsch
interpretierten Eigenschaften eine möglichst geringe Chance haben. Beides ist
bei der Netz-Kommunikation in verhältnismäßig hohem Maße gegeben.
Zwar scheint das Sozialverhalten der Probanden nicht auf
das Netz beschränkt bzw. davon dominiert, dennoch hat es bei den hier Befragten
zeitlich wie zahlenmäßig eine große Bedeutung. Dies liegt zum einen an dem Maß
der erlebten Kontrolle, die eine Kontaktaufnahme erleichtert, was bei den
beschriebenen Ängsten und Unsicherheiten verständlich ist, zum anderen wird es
dadurch begünstigt, daß der mediale Kontakt gleichzeitig offenbar das Erleben
von Nähe, Verbundenheit und Gemeinschaft nicht zu beeinträchtigen scheint. Bei
diesem Erleben von Nähe handelt es sich allerdings eher um subjektive Theorien,
die dem eigenen Wunschbild, zum Teil aber auch sozial positiv konnotierten
Normen entsprechen. Die Realität scheint dagegen vielmehr in der Tendenz zu
eher flüchtigen und schwachen Bindungen, eher kurzfristiger und unverbindlicher
Art zu bestehen. Dies spricht dafür, daß auch hier der Kontakt in der
beschriebenen Weise bedrohlich zu werden beginnt, wenn sich dauerhafte und enge
Bindungen ergeben. Die Flüchtigkeit wäre dann nicht als Folge einer gewissen
Faulheit bzw. eines (über-)großen Angebots von Kontakten im Netz zu erklären,
sondern, wie oben, eher als Schutzmechanismus vor Verunsicherung und
Verstimmung zu verstehen.
Auch die Tendenz zum Eskapismus läßt sich hier einordnen:
Wenn eine Situation schwer aushaltbar wird, dann kann man aus dem Feld gehen,
ohne daß sich in dem Maße wie in anderen sozialen Situationen Konsequenzen und
Sanktionen ergeben.
Erfreulich, wenn auch differenziert zu bewerten, sind die
Ergebnisse, die sich in Hinsicht des spielerischen Umgangs mit Kommunikation und
mit Selbstverständnis und Rollen ergeben.
Es scheint also, wie gesagt, so zu sein, daß die CMC
durch einen gewissen „Kontrollgewinn“ (vgl. Döring,
hier Kap. 3, S. 49) gekennzeichnet ist, was es ermöglicht, neue
Erfahrungen über die eigene Identität in Form von Rollenspielen zu sammeln,
aber auch neue Kontakte zu knüpfen und neue Methoden im Umgang miteinander
auszuprobieren (vgl. Bahl, hier,
Kap. 3.3.3, S. 45 - 49).
Insofern hat die CMC unter anderem die Eigenschaft, neue
Erlebnisse und Erfahrungen zu erleichtern (‘Evokation’, vgl. Turkle, hier, Kap. 3.4, S. 66), was
schließlich zu veränderten Selbsterfahrungen und neuen Umgangsweisen mit sich
und anderen führen kann. Es liegt aber auf der Hand, daß das Ausmaß und die Richtung einer
solchen Veränderung (zum Positiven oder zum Negativen hin) sehr stark von den
persönlichen Dispositionen und Ressourcen abhängt, und nicht einfach allgemein
als eine, dem Medium eigene, förderliche Eigenschaft unterstellt werden kann
(vgl. Turkle, hier, Kap. 3.4, S.
68 f.).
Die in der obigen Weise beschriebenen und verstandenen
regressiven Verhaltensweisen (Flüchtigkeit, Eskapismus, jederzeitige
Verfügbarkeit) sind also selbstverständlich nicht nur potentiell entwicklungsförderlich, indem eigene Muster nicht nur
erinnert, sondern auch wiederholt und im besten Falle auch bemerkt und
verstanden werden können. Sie sind auch in nicht zu unterschätzendem Maße
gefährlich: Sie gehen einher mit einem deutlichen Kontrollverlust und erhöhen damit womöglich die
individuelle Vulnerabilität. Letztere kommt unter anderem dadurch zustande, daß
die eigenen Abwehrmechanismen aufgrund der (z. T. nur) vermeintlichen
Kontrollmöglichkeiten nachlassen. Dies ist aber eben nicht nur ein Gewinn,
indem die einschränkende und hinderliche Seite solcher Mechanismen vermindert
wird, sondern es ist auch ein Verlust und ein nicht zu unterschätzendes Risiko,
indem auch die ‘guten’ Seiten der Abwehrmechanismen, nämlich deren
not-wendenden und schützenden Eigenschaften verloren gehen (vgl. Turkle, hier, Kap. 3.4, S. 68).
Zusammenfassend läßt sich also folgendes festhalten:
All diese Möglichkeiten der CMC (Erleben von Kontrolle,
Spiel mit Rollen, Erleben von Nähe, Ausleben regressiver Verhaltensweisen etc.)
erleichtern es offenbar solchen Menschen, Kontakt zu anderen aufzunehmen, die
die beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale (Labilität, Irritation,
relative Kontaktunfähigkeit, Bereitschaft zu depressiver Verstimmung) und
Schutzmechanismen bzw. Methoden im Umgang mit anderen Menschen (Rückzug,
Introversion) aufweisen.
Die Kontaktaufnahme zu einer Beratungsinstitution stellt
darüber hinaus nochmals besondere
Anforderungen der Überwindung dar, schon allein durch die narzißtisch kränkende
Tatsache, sich als Hilfesuchender zeigen zu müssen, aber auch durch die geahnte
Anforderung, sich den Zusammenhängen und Problemen des eigenen Lebens in einer
Beratungssituation mehr denn je stellen zu müssen.
Für den beschriebenen Personenkreis
scheint die Beziehungsaufnahme und -aufrechterhaltung zu einer Beratungseinrichtung
dann in
besonderem Maße erleichtert zu sein, wenn diese durch ein Kommunikationsmedium
ver-mittelt werden,
- das geringe Aufwands- und Peinlichkeitsschwellen
aufweist,
- das im Erleben die Kontrolle des Kontakts als möglichst
groß erscheinen läßt,
- das dennoch das Erleben von Nähe möglich
macht, (oder das es vielleicht gerade wegen des Erlebens von Kontrolle für
manche Menschen überhaupt erst möglich macht, Nähe zuzulassen),
- das eine gewisse
Verbindlichkeit im Sinne von Zuverlässigkeit (Einhalten von Absprachen) und von
Halt zuläßt (nicht zuletzt auch durch die Verschriftlichung und des damit
verbundenen Gefühls der Objektivierung, des „Schwarz-auf-Weiß“), und
- das regressive,
primärprozeßhafte Verhaltensweisen lebbar macht, ohne daß damit die üblichen
(sozialen) Sanktionen in Aussicht gestellt wären.
Die regressions- und erlebensfördernden Eigenschaften der
Netz-Kommunikation können einen Beratungsprozeß also durchaus unterstützen,
eine erfolgreiche Entwicklung hängt aber von vielen weiteren Faktoren ab
(Eigenschaften des Nutzers, [medienspezifische Beratungs-]Kompetenz des
Beraters etc.), so daß hier keinesfalls davon gesprochen werden kann, daß die
Beratungssituation über das Netz per se entwicklungsfördernd sei.
Abschließend kann, alle Ergebnisse abwägend, die eingangs
gestellte Frage, ob Beratungsangebot und Nutzerkreis zusammenpassen, eindeutig
bejaht werden: Es ist kein Zufall, daß sich dieser Personenkreis bei der
Psychologischen Beratung im Internet einfindet, und man darf annehmen, daß es
sich dabei um eine Population handelt, die sich im Durchschnitt eher nicht in
andere, direktere Formen der Beratung begeben würde.
7.1.5 Internet-Sucht
Schließlich sollte als letzter Aspekt das in den Medien
und der Öffentlichkeit so viel diskutierte Thema der Internet-Sucht genauer in
den Blick genommen werden.
Man kann feststellen, daß das Phänomen Internet-Sucht
zumindest in dem Sinne gegeben zu sein scheint, daß sich ein nicht
unerheblicher Teil der Befragten (22 %) selbst so klassifiziert (Kap. 6.3.6, S.
277). Dieser Personenkreis nutzt das Netz signifikant länger und anders (Chat)
als nicht Internet-Abhängige (Kap. 6.3.6, S. 283), was letzteres das Ausleben
eines hohen Erregungspotentials bei gleichzeitig hoher Kontrolle erlaubt (vgl.
Kap. 6.3.6, S. 290 - 292). Schließlich kommt es zu gewissen Kennzeichen von
Abhängigkeit, wie Kontrollverlust, Nicht-aufhören-Können etc. (vgl. Batinic, hier, Kap. 3.5.2, S. 86).
Die sozialen Kontakte der Internet-Süchtigen finden in
deutlich erhöhtem Maße über das Medium vermittelt statt (39 %), im Vergleich zu
den Nicht-Abhängigen signifikant weniger als im sogenannten ‘richtigen Leben’.
Auch hierfür ist das möglichst hohe Maß an Kontrolle solcher Situationen, in
denen man sich selbst darstellt, entscheidend. (vgl. Kap. 6.3.6, S. 284)
Zur
Persönlichkeitsstruktur kann man insgesamt festhalten, daß die Gruppe der
Internet-Süchtigen im Sinne der Dimensionen des FPI mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit (auf unterschiedlichen Signifikanz-Niveaus) durch eine
größere spontane und durch eine geringere reaktive Aggressivität gekennzeichnet
ist, daß sie ebenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit stärker
introvertiert und emotional labiler ist, daß sie höchstwahrscheinlich von
größerer Depressivität geprägt ist, daß sie durch ein höheres Maß an Offenheit
bzw. Auskunftsbereitschaft zumindest in der Untersuchungssituation
gekennzeichnet ist, daß sie insgesamt durch ein geringeres Maß an Geselligkeit
ausgezeichnet ist, und daß sie im Kontakt zu anderen Menschen von größerer
Gehemmtheit und Irritierbarkeit gekennzeichnet ist als die
Persönlichkeitsstruktur der Durchschnittsbevölkerung (vgl. Kap. 6.3.6, S.
285 - 287).
Die aus der
Theorie von Stephan zur Relation
von Sucht und Selbstregulationskompetenz abgeleitete Hypothese des
Zusammenhangs von Suchtverhalten und emotionaler Labilität läßt sich im Rahmen
der vorliegenden Untersuchung nur teilweise bestätigen: Wie gezeigt,
unterscheiden sich die Internet-Süchtigen hinsichtlich der Skala N (=
emotionale Labilität) des FPI signifikant von der Durchschnittsbevölkerung, es
läßt sich aber kein Unterschied zwischen der Internet-süchtigen und der nicht
Internet-süchtigen Teilstichprobe der befragten Probanden statistisch sichern.
(vgl. Kap. 6.3.6, S. 287)
Man kann
also festhalten, daß es eine besondere Gruppe von Netz-Nutzern bzw.
Internet-Beratungsklienten gibt, die hinsichtlich der genannten Parameter
charakteristische Eigenschaften aufweist und die in Richtung einer
übertriebenen, nur noch eingeschränkt kontrollierbaren Verhaltensstruktur, mit
zum Teil durchaus selbstschädigenden Anteilen (Kosten, soziale Verarmung
außerhalb des Netzes) tendiert. Von einer Störung von Krankheitswert zu
sprechen erscheint allerdings nach den bislang vorliegenden Untersuchungsergebnissen
eher gewagt. Vergleichsweise würde der Fernsehkonsum eines nennenswerten Teils
der Durchschnittsbevölkerung sicherlich
ähnlich viele Suchtkriterien erfüllen: Die Tendenz zur Dosissteigerung
und die Risiken für das Individuum, hier z. B. im Sinne einer sozialen
Verarmung, und ein gewisser Kontrollverlust könnten sicherlich in beiden
Bereichen in vielen Fällen gegeben sein (vgl. die Definition der WHO, hier,
Kap. 3, S. 78). Das Kriterium der physischen oder auch ‘nur’ rein psychischen
Abhängigkeit verbunden mit dem Auftreten von Entzugserscheinungen ist
sicherlich nicht eindeutig zu beantworten, sondern hängt davon ab, wie man dies
im einzelnen definieren und operationalisieren möchte.
Zusammenfassend läßt sich aber sagen, daß das
Internet ökologische Bedingungen zu bieten scheint, die die Verbindung von
Zielsetzungen erlauben, die unter ‘realen’, soll heißen netz-externen
Umweltbedingungen nicht ohne weiteres möglich wären: Zum einen können
emotionale Irritationen mit der Folge starker Stimmungsschwankungen mit
entsprechend negativer Ausprägung vergleichsweise besser vermieden werden, und
es kann gleichzeitig ein vergleichsweises hohes Erregungsniveau in überwiegend
positiver Ausprägung ausgelebt werden (Chat, exzessives Surfen im WWW), gerade
weil ein hohes Maß an Kontrolle gegeben scheint (jederzeit aussteigen können,
unangenehme Situationen vermeiden können etc.).
Diese drei
Punkte, große Kontrolle (1.) auf hohem Erregungsniveau (2.) bei vergleichsweise
großer Sicherheit vor einem emotionalen Absturz (3.; vgl. Labilität), haben
zumindest ein hohes Suchtpotential zur Folge. Insofern erscheint die Quote der 22 Prozent,
die sich selbst als Internet-süchtig bezeichnen, durchaus möglich zu sein,
wenngleich es sich, wie diskutiert s. o., Kap. 7.1.5, S. 314 f.), wohl eher
nicht um eine Sucht im strengen Sinne der allgemein üblichen Definitionen
handelt.
7.2 Ausblick auf weitere
Zusammenhänge und Forschungsfragestellungen
Neben vielen Fragen, die die netz-spezifischen Merkmale
der Kommunikation und deren Auswirkungen auf Identitäts- und
Gemeinschaftsgefühl und auf Beziehungsmodalitäten und -möglichkeiten im
allgemeinen betreffen, und die Anlaß für viele weitere sinnvolle Untersuchungen
bieten, ließe sich auch der Weg verfolgen, die Zusammenhänge weiter in Richtung
ihrer psychischen Dynamik zu untersuchen, gleichsam deren inneren Sinn genauer
in den Blick zu nehmen. Eine Hinweis, welche Wege sich hier eröffnen könnten,
soll durch die folgenden Gedanken abschließend gegeben werden.
Im Vergleich zu Kapitel 3.2.2 (S. 32 - 37), wo die
Gedanken zur Regression von König
dargestellt sind, soll hier der Regressionsbegriff nochmals differenzierter
betrachtet werden: Wie unter 7.1.2 (S. 305 - 308) dargestellt, lassen sich
einige Verhaltensmuster feststellen, die Kennzeichen von Regression im Sinne
eines vermehrten Auftretens früher Regulationsformen bis hin zu primärprozeßhaften Verhaltensweisen
aufweisen.
Aber es läßt sich mit etwas Kühnheit auch eine weitere
Hypothese wagen, nämlich daß es sich hier im Sinne des Traumverständnisses von
Freud um eine Art aktueller oder um es mit den Worten der Ganzheitspsychologie
(vgl. Sander/ Volkelt, 1967, S.
103 ff.) zu sagen, „aktualgenetischer“ Regression handelt: Also nicht um die
„formale“ und nicht um die „materielle Regression“ (Freud, 1916/17, S. 215), sondern um die Regression im Sinne
des „rückläufigen Weg[es]“ (Freud,
1900, S. 518) der nervlichen Erregung innerhalb des „Handlungskreises“ (Salber, 1987, S. 207 f.), die also nicht
motorisch abgeführt werden kann und darf (Traum als „Hüter des Schlafs“; Freud, 1916/17, S. 144), und die somit
nicht zum „motorischen Ende des Apparats“ hin gelangt (Freud, 1900, S. 518), sondern die hin zu dessen „sensiblen
Ende [fließt,] ... welches die Wahrnehmungen empfängt“ (Freud, 1900, S. 514). Dies geschieht im Traum im Sinne
halluzinatorischer Bildungen, die eine Verarbeitung und einen Abschluß der
angestoßenen Handlungsstrecke ermöglichen sollen. (vgl. Freud, 1900, VII Kapitel, S. 510 ff., insbesondere S. 518)
Wenn man diese Überlegungen zugrunde legt, so wäre eine
spannende Weiterführung die Erwägung, ob bzw. inwiefern die von Freud gefundenen Mechanismen der
Traumarbeit eventuell auch bei der phantasmatischen Bildung der virtuellen
Welt(en) von Bedeutung bzw. am Ende sogar konstitutiv sind, hier vielleicht
weniger im Sinne halluzinatorischer Prozesse, aber doch im Sinne projektiver
Verhaltensweisen.
Ich möchte an dieser Stelle eine Überlegung von Heubach hinzufügen (Vortrag von F. Heubach im Rahmen der Ringvorlesung von
G. Fischer, SS 1998, Universität
zu Köln), in der er versucht der Frage nachzugehen, was eigentlich das Wesen
eines Bildes als Bild ausmacht. Er versucht das Bildhafte zu fassen als „die Wahrnehmung
von etwas, und der gleichzeitigen Wahrnehmung davon, daß das Wahrgenommene
dieses etwas gar nicht ist“, sondern nur für dieses steht. Nimmt man das
Wahrgenommene nicht als Bild wahr, dann hält man es für die Sache selbst; erst
im Erleben eines etwas als Bild, bekommt diese eigentümliche Doppelung bzw.
Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung (s)eine Bedeutung.
Der Gedanke ist deshalb so spannend, weil es auf den
Punkt aufmerksam macht, daß man unterscheiden muß bei den viel zitierten
virtuellen Welten, virtuellen Städten, virtuellen Beziehungen, virtuellen
Identitäten etc., ob bzw. inwieweit diese Virtualitäten überhaupt noch als virtuell wahrgenommen werden, oder inwieweit sie
für die Sache selbst gehalten werden.
Außerdem läßt sich dann fragen, unter welchen Bedingungen
die Gegebenheiten eher als virtuell oder eher als real erlebt werden. Hier läßt
sich nun der Kreis dieser Überlegungen schließen: Es liegt die Hypothese nahe,
daß es Mechanismen gibt, die dafür verantwortlich sind, inwieweit etwas als
virtuell oder als ‘wirklich’ seiend erlebt wird. Solche Mechanismen könnten etwas
mit dem Grad der Regression innerhalb einer konkreten Kommunikationssituation
zu tun haben und die Regression wiederum mit dem Vorkommen bzw. Einsatz der von
Freud beim Traum beschriebenen Mechanismen, wie Verschiebung, Verdichtung,
Rücksicht auf Darstellbarkeit und sekundäre Bearbeitung, um die vier
wesentlichen zu nennen. (Freud,
1916/17, 11. Vorlesung, S. 178 - 189)
Dies eröffnet neue Forschungsfragestellungen, die mehr
die Absicht verfolgen, in die Tiefe der Kommunikationsstruktur des Mediums
Internet einzudringen. Diese Fragestellungen konnten allerdings nicht im Rahmen
der vorliegenden Untersuchung bearbeitet werden; sie lassen aber weitere
Vorhaben interessant erscheinen.
19 Hier soll der Begriff ‘signifikant’ nicht weiter in verschiedene Signifikanz-Niveaus differenziert werden, so daß damit durchaus auch sehr bzw. hochsignifikante Unterschiede gemeint sein können. Die exakten Irrtumswahrscheinlichkeiten können unter den angegebenen Seitenzahlen nachgesehen werden.